von Nadine Wenzlick
Ihren Headliner-Auftritt beim Download Pilot im Sommer 2021 werden Enter Shikari ganz sicher ihren Lebtag nicht vergessen. „Ich hatte davor eineinhalb Jahre keinen einzigen Song geschrieben. Enter Shikari existierten praktisch nicht“, sagt Sänger Rou Reynolds. „Während des Corona-Lockdowns hatte ich das Gefühl, dass ich meine Fähigkeit zu schreiben und meinen Antrieb verloren hatte. Es war eine komische, angsteinflössende Zeit. Ich erkannte, dass Live-Musik mein Treibstoff ist. Die Momente, in denen ich mich mit unserem Publikum verbunden fühle, sind für mich unheimlich inspirierend.“ Als Enter Shikari dann die Bühne jenes Festivals – ein Pilot-Versuch, Live-Musik wieder möglich zu machen – betraten, entluden sich nicht nur die lange Zeit angestauten Gefühle der 10’000 Besucher in kollektiver Euphorie, sondern auch für Enter Shikari war die Show ein Wendepunkt. „Es war so ein euphorisierender, unglaublicher Tag! Wir spielten danach noch ein paar andere kleinere Konzerte und auf einmal kamen die Song-Ideen“, so Reynolds.
„A Kiss For The Whole World”, das siebte Album von Enter Shikari, steckt dementsprechend voller Energie. Ein „Album voller Banger“, wie Reynolds es formuliert. „Am Anfang sagten wir das nur aus Scherz so, aber genau das ist es geworden. Während auf unseren früheren Platten viele Prog-Einflüsse zu finden waren und die Songs zum Teil sehr mäanderten, gibt es dieses Mal kaum Momente der Selbstgefälligkeit.“
Für die Aufnahmen zogen Enter Shikari sich auf eine Farm in der englischen Küstenstadt Chichester zurück. „Ich hatte kurz vorher ‚Walden oder Leben in den Wäldern‘ von Henry David Thoreau gelesen, in dem er über sein Leben in einer Blockhütte in Massachusetts schreibt, und hatte das Bedürfnis, etwas Ähnliches zu tun“, so Reynolds. „Ich wollte kein Studio, sondern zurück zu den Wurzeln.“ Auf Airbnb fand die Band ein abgelegenes altes Farmhaus, in dem es weder Heizung noch Strom gab, und richtete sich dort für fünf Wochen ein temporäres Studio ein. „Gleichzeitig Wasser kochen und Aufnehmen ging nicht, weil es dann einen Kurzschluss gab. Wir mussten unseren Tag also gut planen“, lacht Reynolds. „Die Farm ist umgeben von Feldern, wir sahen jeden Tag Rehe. Morgens haben wir Holz gehackt und abends zusammen gekocht. Es war eine grossartige und sehr vollkommende Erfahrung.“
Für die Texte tauchte Reynolds tief ein. „Da ist eine Menge Selbstanalyse. Es geht viel um die Frage, wer man ist. Dass das Selbst fliessend ist und das völlig okay ist. Gleichzeitig sind die Songs aber auch sehr positiv“, sagt er. „It hurts everytime we fall but it doesn’t change your worth at all“, ermuntert er zum Bespiel in „It Hurts”, während der Titelsong seine „Ode an die Freude” ist. „Beethovens 9. Sinfonie war das erste Stück, das ich auf der Trompete lernte, als ich acht war“, so Reynolds. „Ich wollte meine eigene Ode an die Freude schreiben und herausfinden, wie wir dieses Gefühl im Jahr 2023 empfinden, was die Unterschiede sind. Denn ich habe das Gefühl, dass Freude in der heutigen Zeit viel fragiler und flüchtiger ist. Kaum empfinden wir sie, werden wir auch schon wieder an die zahlreichen Krisen in der Welt erinnert, so dass wir uns fast für unsere Freude schämen. Das ist ein seltsamer Zustand – zumal Freude so eine motivierende Kraft ist, die uns zusammenbringt.“ Auf „A Kiss For The Whole World“ jedenfalls klingt sie unmissverständlich durch.