von Rainer Etzweiler

Ein fiktives England der nahen Zukunft: London versinkt im Chaos. Die Regierung hat die Kontrolle verloren und die Insel in die korrupten Hände der faschistoiden Sicherheitsagentur Albion übergeben. Doch unter den Strassen brodelt der Widerstand und dieser macht «Watch Dogs: Legion» zum faszinierendsten Open-World-Game des Jahres. (Zumindest bis «Cyberpunk 2077» erscheint, aber sind wir ehrlich, niemand rechnet mehr noch damit in diesem Jahr.)

Das Game beginnt mit einer Auswahl von zwölf zufallsgezogenen Charakteren. Diese unterscheiden sich primär durch ihre beruflichen Tätigkeiten und deren Gadgets, die wiederum exklusive Fähigkeiten bereitstellen – zu diesen später mehr. Wir entscheiden uns für den 46-jährigen Investor Raphael Thompson. Der hat zwar nicht wahnsinnig viel zu bieten, wirkt mit seiner Tweed-Jacke, der Fliege und seinem distinguierten Vokabular aber so absurd fehlplatziert, dass es den satirischen Unterton von Ubisofts Dystopie hervorragend unterstreicht.

Neun Millionen Möglichkeiten

Raphael Thompson ist einer der neun Millionen Bewohnern Londons, die du im Namen des Hacker-Kollektivs DeadSec für deine Revoluzzer-Squad rekrutieren kannst. Womit wir beim Sales Pitch von «Watch Dogs: Legion» wären. Es gibt keinen Semi-Superhelden, der die Stadt retten kann. Das Schicksal von London liegt in den Händen des Proletariats und damit liegt es an dir, ein gut gemixtes Team an diversen Charakteren zusammenzustellen. Wer was kann, verrät dir das In-Game-Smartphone. Jeder Passant, dem du begegnest lässt sich scannen und so erfährst du beispielsweise, dass die Sanitäterin den Krankenhausaufenthalt deiner Teamkollegen verkürzt, sollten die sich während einer Mission verletzen. (Was ziemlich häufig passiert, wenn man so unfähig ist wie wir).

Ein Bauarbeiter wiederum kann sich dank seiner Arbeitskleidung fast frei auf Baustellen bewegen, auch wenn der Feind dort patrouilliert. Zusätzlich kann Joey (unser rekrutierter Bauarbeiter, der laut seiner Bio eine Eidechse besitzt und gerade mal 11’000£ jährlich verdient – da wären wir auch hässig auf den Staat) eine Transportdrohne rufen. Diese bewegt aber nicht nur Ware, sondern wahlweise auch Joey, der damit in einigen Missionen den Vorteil vom High Ground hat (Kenobi-High-Five). Wie und mit welchem Charakter du diese angehen willst, bleibt komplett dir überlassen. Je nach Spielfigur und Kreativität ergeben sich dabei teils herrlich verschachtelte Aufträge.

Stealth sei Dank

Ein Beispiel dafür: Um die Moral der Bevölkerung zu heben, sollen wir die Glocken in Westminster City zum Läuten bringen. Der Weg zum Gebäude wird allerdings von Albion-Truppen schwer bewacht. Um diese zu umgehen, wollen wir einen ihrer Mitarbeiter in unsere Reihen aufnehmen. Es dauert ein wenig, bis wir einen geeigneten Kandidaten finden, denn die meisten Albions halten von DeadSec so viel, wie Polens Regierung von LGBTQ-Rechten. Nach einer kurzen Suche stossen wir aber auf Michael Galbon, der sicher ist, dass Albion synthetische Menschen herstellt. Wir wiederum sind uns sicher, dass Michael einen an der Klatsche hat – willigen aber ein, für ihn das Gebäude zu infiltrieren, wo die Menschenproduktion stattfinden zu soll. Eine Stealth-Mission später können wir Entwarnung geben. Michael ist zwar nicht wirklich überzeugt, schliesst sich uns aber trotzdem an. Wenig später marschiert er unbehelligt an seinen ehemaligen Kollegen vorbei in Richtung des Glockenturms in Westminster. [Playing «Ocean‘s Eleven» Music]

Neue Tricks für alte Hunde

So einzigartig das Charakter-System ist, so routiniert gibt sich das Gameplay. Wer einen der Vorgänger gespielt hat, weiss, was Sache ist. Meistens verlangen die Mission, dass man – je nach eigenen Vorlieben – mit rauchenden Wummen oder schleichend eine Location erkundet und dort Daten runterlädt/jemanden rettet/etwas kaputt macht. Dank zahlreichen Gadgets wie ferngesteuerten Spinnen-Roboter, Hacking-Tools für die feindliche Verteidigung und die grosse Freiheit in der Herangehensweise unterhalten diese aber locker bis zum Ende der rund 35-stündigen Story. Das futuristische London ist zudem eine tolle Kulisse. Die europäische Hauptstadt wirkt organischer als Chicago, respektive San Francisco aus den Vorgängern und obendrauf hat Ubisoft das Sandbox-Abenteuer aber hier und da etwas entschlackt. Alles in allem ist «Watch Dogs: Legion» der beste Teil der Franchise und wem die Welt da draussen nicht schon genug dystopisch ist, der greift zu.

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