In ihren Texten verankert Gina Été das Persönliche im Politischen und kleidet dabei den Protestsong neu im musikalischen Gewand eines – wie sie ihn beschreibt – Hybrid Pops. Im Mai veröffentlichte die Zürcherin ihr Debütalbum «Erased By Thought», welches sie bei San Francisco mit Produzent John Vanderslice (Death Cab For Cutie, St. Vincent, Sophie Hunger) aufnahm. Die mehrsprachigen Lieder, deren Arrangements ebenso elegant wie experimentierfreudig gestaltet sind, ziehen ihre Inspiration aus einer aufwühlenden Wirklichkeit – so wie die Single «Trauma», welche Gina nach einem Aufenthalt als Flüchtlingshelferin auf der griechischen Insel Lesbos komponierte.

Nach der Plattentaufe in der Roten Fabrik nahm sich Gina Été die Zeit, uns ein paar Fragen zu beantworten: Über das Leben als Musikerin während der Pandemie, Aktivismus im Netz und in der Kunst sowie dieser kleine Hoffnungsschimmer, welcher in den vergangenen Monaten aufzuglühen scheint.

2019 haben wir zum ersten Mal über deine Musik geschrieben, als du im Song «Mauern» die Aussenpolitik von Donald Trump kritisiert hast – mit einem Musikvideo, dass die Not an der Grenze zwischen Mexiko und den USA abbildet. Seither wurde Trump abgewählt. Die Ermordung von George Floyd hat vergangenen Sommer eine weltweite und in diesem Ausmass noch nie dagewesene Solidaritätsbewegung gegen Rassismus ausgelöst. Protestgruppen wie Fridays For Future prägen die aufwachsende Generation. Bewegt sich unsere Gesellschaft in den vergangenen Monaten in eine etwas hoffnungsvollere Richtung deiner Meinung nach?

Ja?! Ich fühle mich bestärkt und inspiriert von meinem sich politisierendem Umfeld, als auch von dieser heranwachsender Generation informierter Feminist*innen, Klimaaktivist*innen und Anti-Rassist*innen. Ich habe das Gefühl, in meinem Freund*innen- und Familienkreis steigt allgemein das Bewusstsein für inklusive Sprache, die Themen werden oft diskutiert. Natürlich haben Corona-Massnahmen den ganzen Bewegungen einen gehörigen Dämpfer gegeben und ich finde es sehr frustrierend, wie die Zürcher Stadtpolizei z.B. mit den Aktionen vom 8. März umgegangen ist. Aber insgesamt würde ich sagen, es bewegt sich viel und es geht stetig bergauf.

Social Media macht es einfacher, auf strukturelle Probleme in der Welt hinzuweisen – und Menschen scheinen sich auch zunehmend damit auseinander zu setzen. Manchmal scheint es aber so, dass dies oft nur relativ oberflächlich geschieht: Man liket einen Post, teilt ihn, fühlt sich gut – und geht dann schon zum nächsten «Ding» über. Krisen und Ungerechtigkeiten verschwinden somit wieder in der Timeline, ohne aber aus der Welt zu sein.  Hast du ähnliches beobachtet und glaubst du, dass eine künstlerische Auseinandersetzung mit solchen Brennpunktthemen – zum Beispiel durch Songs und Videoclips – die Menschen emotionaler und nachhaltiger anbinden kann und sie zum Handeln bewegt?

Diese Frage. Wenn ich das wüsste. Dies ist wahrscheinlich die zentrale Frage, die sich durch nahezu alle Songs meines Debütalbums zieht: Welche Rolle spiele ich in unserem System und welche möchte oder müsste ich spielen? Reicht es, Kunst zu machen? Bringt das jemandem etwas? Ich versuche trotzdem zu antworten: Ich bin auf jeden Fall mit dir einverstanden, dass Social Media einem für eine sehr kurze Zeit fälschlicherweise das Gefühl geben kann, engagiert oder informiert zu sein. Trotzdem finde ich, dass es dort Menschen gibt, die wichtige Informationen auf eine sehr verständliche Weise leicht zugänglich machen. Ich bin z.B. Fan von Anna Rosenwassers Kanal und hole mir dort oft Infos und Meinungen über kommende Abstimmungen. (Nachschauen für den 13. Juni!!!)

Auch glaube ich, dass wir Menschen – um handeln zu wollen – uns mit Themen emotional verbinden und direkt betroffen fühlen müssen. Und Musik oder Kunst kann ein sehr direkter Zugang zu Emotionen sein. Ich glaube nicht, dass meine Musik Menschen direkt zum Handeln bringt. Aber sie öffnet vielleicht einen Raum für neue Gedanken oder bestärkt einen in den eigenen. Und wenn frau länger über unser System nachdenkt, muss frau letzten Endes handeln, oder?

Die Corona-Pandemie hat viele bestehende Missstände in der Gesellschaft offengelegt, meist sogar verschärft. Wie hast du dabei die letzten Monate erlebt und werden sich deine Erfahrungen auch auf deine Kunst auswirken?

Ich muss sagen, ich hatte sehr viel Glück im letzten Jahr. Ich bin noch nicht lange selbstständige Musikerin und hätte eigentlich durch alle Auffangnetze fallen müssen. Doch bin ich durch private Stiftungen und neue musikalische Projekte finanziell gut durchgekommen und hatte darüber hinaus mehr Zeit denn je, Musik zu schreiben. Diese Monate wirken sich also insofern direkt auf meine Kunst aus, dass ich a) dank Lockdown 1 jetzt ein bisschen Gitarre spiele und b) eigentlich schon fast ein zweites Album geschrieben habe. Thematisch änderte sie an meiner Kunst aber eher wenig; die gesellschaftlichen Themen, die mich beschäftigen, waren schon vorher prekär und sind jetzt einfach sichtbarer geworden.

Für Kunstschaffende waren die vergangenen mitunter Monate besonders prekär. Hast du die politischen Werkzeuge zur Unterstützung der Branche als ausreichend empfunden? Was könnte, müsste sich verbessern?

Wie gesagt, ich befand mich in einer privilegierten Position. Jedoch habe ich mich bis heute nicht getraut – eben weil ich so kurz vorher erst selbständig wurde – die offizielle Ausfallentschädigung zu beantragen. Dies führe ich auch direkt auf eine vielen Frauen anlastende, niedrige Selbsteinschätzung zurück. («Darf ich das beantragen? Dafür bin ich doch nicht gut, weit genug?») Ich würde also behaupten, wenn ich als junge, weisse, gut ausgebildete, privilegierte Schweizerin mich nicht mal traue, dieses Formular überhaupt erst auszufüllen, ist auf jeden Fall die Hürde zu hoch. Die Hilfeleistungen müssten niederschwelliger zugänglich sein.

Auch habe ich den Eindruck, dass die Hilfeleistung doch sehr einseitig sind. Für Menschen, die schon lange 100% selbständig arbeiten und das nachweisen können, war das wohl relativ passend. Doch für all die Künstler*innen, die unregelmässig in verschiedenen Projekten arbeiten, mal für kurze Zeit angestellt, mal selbständig, mal in der Gastro und für Menschen und Betriebe, die gerade erst angefangen haben, war es echt ein Dschungel an unklaren An- und Absagen.

Jetzt also: Plattentaufe, endlich wieder Liveshows. Glaubst du, Menschen werden in der unmittelbaren Zukunft Konzerte anders erleben – sei es, weil sie noch immer auf Vorsicht bedacht sind, oder weil sie jetzt umso ausgelassener feiern wollen?

Auf jeden Fall, es gibt kein zurück! Und ich glaube für alle hat sich die Erfahrung von Kultur in diesem Jahr geändert, in alle möglichen Richtungen! Wir haben am 2. Juni in der Roten Fabrik gespielt, ca. 80 Menschen, Masken, sitzend, immer ein Stuhl frei. Ich selber war masslos aufgeregt – so lange ist es her. Was muss ich einpacken? Wie aufstellen? Welche Instrumente spiel ich nochmals? Dann endlich wieder mit meiner Band auf einer grossen, erhöhten Clubbühne, eine riesige Soundanlage, die Subwoover vibrieren unter den Füssen, eingehüllt in den wahnsinnigen Lichtstimmungen. Wunderbar! Doch dann schau ich von oben herunter, die klaffende Leere der einzelnen Stühle zwischen jedem Menschen, unter den Masken kaum erkennbar, ob sie gerade lachen, staunen, oder sich langweilen? Zum Glück haben sie dankbar gejubelt, sind sogar aufgestanden für den letzten Applaus!

Und für die Zuschauenden erst – zahlreiche fremde Menschen in einem Raum, so laute Musik, wie schon lange nicht mehr, die Lichtblitze, die Scheinwerfer im Gesicht, Applaus und Jubeln. Einige meinten nach dem Konzert, es hätte sie komplett reingezogen. Sie wären noch etwas benebelt, fast trip-artig sei es gewesen, so stark hätten ihre Sinne auf das Konzert reagiert. Und eine meinte zu mir, sie spüre, wie viel Energie, Ideen und Nährboden für ihr eigenes Leben ihr dieses Konzert gerade gegeben habe. Das war schön zu hören.

Nächster Live-Termin: Beeflat im PROGR (Bern), 23. Juni