von Johanna Senn
Foto: Tim Loosli
Wer sich gerne in Geschichten verliert und dabei noch etwas lernen möchte, sollte das Buch “Helvetias Töchter” von Nadine A. Brügger lesen. Die Historikerin und Journalistin erzählt in acht kurzweiligen Geschichten, wie sich die Frauen in der Schweiz das Stimmrecht erkämpft haben. Dabei sind es nicht die schillernden Figuren der Bewegung, die Nadine Brügger portraitiert.
In den fiktiven Geschichten von acht gewöhnliche Frauen, erfahren die Leserinnen und Leser wie die Frauen früher gelebt und für ihre Rechte gekämpft haben. Im Gespräch mit RCKSTR erzählt Nadine, was sie bei ihrer Recherche überrascht hat und welche Forderungen sich bis heute nicht verändert haben.
Hallo Nadine! Wieso hast du dich dazu entschieden, fiktive Frauengeschichten zu schreiben?
Ich finde Sachbücher wahnsinnig langweilig, aber Geschichten packen mich. Deswegen die Idee von fiktiven Frauenfiguren, bei denen ich den Leserinnen und Lesern die verschiedenen Infos häppchenweise füttern kann.
Mit den Erzählungen von Luisa oder Inez hast du auch die Geschichten queerer Frau im Buch. Wie visibel waren queere Frauen in der Frauenstimmrechtsbewegung der Schweiz früher?
Homosexualität besteht natürlich schon seit immer, aber früher war das in der Gesellschaft noch überhaupt nicht akzeptiert. In der Frauenstimmrechtsbewegung gab es aber sehr viele homosexuelle Frauen, weshalb es für mich klar war, dass das auch ein Teil vom Buch sein soll. Mir war es wichtig aufzuzeigen, dass das einfach dazugehört. In der Geschichte von Inez, in der die beiden Mütter ein Paar sind, wollte ich aber auch zeigen, wie schwierig es für gleichgeschlechtliche Paare damals in der Gesellschaft war. Obwohl wir ja auch heute noch Diskussionen führen, bei denen man sich an den Kopf fassen muss.
Was für eine Rolle haben queere Frauen in der Bewegung gespielt?
Es gibt einige Figuren, die in der Stimmrechtsbewegung treibend waren wie zum Beispiel Caroline Farner. Sie war Anfang des 20. Jahrhunderts die erste Allgemeinmedizinerin der Schweiz was schon eine Ausnahme war: Da wagte sich eine Frau, Männer zu behandeln! Sie war lesbisch und lebte mit ihrer Partnerin zusammen. Die beiden Frauen waren aktiv in der Frauenstimmrechtsbewegung und da waren sie auch total akzeptiert. Ich habe das Gefühl, dass Frauen, die es schwerer hatten sich in die damaligen gesellschaftlichen Strukturen einzuordnen, darum auch eher bereit waren zu sagen: Ich passe sowieso nicht, ich kämpfe jetzt für diese Sache und meine Rechte. Mir war es auch wichtig, die Verhältnisse zwischen den Frauen aufzuzeigen und klar zu benennen. Denn in der Zeit, in der die Geschichten spielen, wurde Homosexualität oft auch verschweigen. Dann hiess es einfach “sie lebt mit ihrer besten Freundin zusammen”.
Die Geschichte von Amara erzählt aus dem Leben einer jungen Kurdin in der Schweiz. Wie hast du recherchiert, um dich in die verschiedenen Lebensrealitäten hineinzuversetzen?
Alles, was ich nicht selber nachvollziehen konnte oder nicht aus meiner Realität kommt, habe ich versucht, im Gespräch mit betroffenen nachzuvollziehen. Menschen mit Migrationshintergrund gibt es, die können ihre Erfahrungen teilen. Für die Geschichten aus dem 19. Jahrhundert habe ich vieles recherchiert und nachgelesen. Zum Beispiel für die Geschichte von Hélène habe ich anhand alter Tagebucheinträge von Lydia Escher, der Tochter von Alfred Escher, versucht nachzufühlen, wie es einer jungen Frau in der Zeit gegangen sein muss. Aus dem zweiten Weltkrieg gibt es viele Briefe, die ich für die Geschichte von Elsa gelesen habe. Um da in den Flow der damaligen Sprache zu kommen habe ich angefangen mit mir selbst so zu reden.
Du zeichnest in deinem Buch Geschichten von 1846 bis 2019 auf. Wie haben sich die wichtigsten Probleme und Forderungen der Frauen im Laufe der Geschichte verändert?
Durch die Recherche wurde mir nochmal vor Augen geführt, dass den Frauen damals schlicht und ergreifend das Wissen fehlte, um überhaupt etwas für sich einzufordern, wie zum Beispiel Abzustimmen und das Recht über sein eigenes Geld zu verfügen. Erst durch bessere Bildung kamen die Frauen in eine Position, in der sie forderten, dass sich ihre Situation verbessert. Beispielsweise im zweiten Weltkrieg sammelten die Frauen noch Geld, um ihre vermeintlichen Pflichten zu erfüllen, sodass man ihnen später auch ihre Rechte einräumt. Mit den 68ern wechselte sich das schlagartig: die Frauen forderten ihre Rechte ein mit dem Selbstverständnis, dass sie ihnen zustehen. Diese Frauen gingen dafür auf die Strasse, sie wurden laut, sie pfiffen die Männer aus – es entstand eine neue Dynamik. Endlich wehrten sie sich und stellten Forderungen!
Ja, man vergisst man schnell, dass die Bildung früher nicht dieselbe war wie sie heute ist.
Was man auch nicht vergessen darf ist, dass man Gesellschaftlich geächtet wurde, wenn rauskam, dass sich eine Frau in Suffragetten-Kreisen bewegt. Wenn sie Briefe verschickten, achteten sie sich auf einen neutralen Absender und Umschlag, dass auch ja der Postbote nichts erfährt.
Zum Glück ist die ganze Dynamik dann gekippt.
Ja, aber was auch krass ist: Das erste mal, als eine Frau aufgeschrieben hat, dass man für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn möchte, war um das 19. Jahrhundert rum. Diese Forderung, ist auch heute noch – nach mehr als hundert Jahren – wortwörtlich die gleiche.