Es war ein kurzes Zeitfenster, die Monate der Lockerungen zwischen Lockdown und Slowdown, Mini-Lockdown, Lockdown Light oder wie das nun auch immer genannt wird, dass es nicht so sehr nach Einschränkungen klingt, sondern eher nach einer neuen Down-Tempo-Sparte oder einer innovativen healthy Zigarettensorte. Es war ein schönes Zeitfenster. Ich arbeitete ganze zwei Mal an der Bar und stand etwa fünf Mal auf der Bühne. Einmal spielte ich in einem Thermalbad, wo das Publikum im Wasser sass und einmal auf einem Bauernhof über dem Zürichsee, wo man dem Publikum aus zwei Kilometer Entfernung die Kunstschule ansah. Mit langen Mänteln, zweifelhaften Frisuren und schönen Schuhen kamen sie aus Zürich angereist und nach meiner Performance sagten mir die sexy Boys mit Bachelorabschluss in Fine-Arts oder irgendeinem anderen austauschbaren ZHDK-Studiengang, wie mitreissend sie meine Stimme fanden und wie berührend meine Texte. Dabei hatte der Techniker die Nebelmaschine nicht im Griff und ich verbrachte die Hälfte des Sets damit, Hustenanfälle zu vertuschen. Später fuhr ich von oben bis unten mit Dreck vollgespritzt, betrunken vom Obstbrand und mit einem Huhn unterm Arm nach Hause in die Bundeshauptstadt. Drei- bis viermal umsteigen und in der Unterführung in Zürich wäre ich fast zusammengeklappt. Das Huhn setzte ich auf Gleis sieben aus, den Dreck nahm ich mit nach Bern.
Am Abend bevor der Kanton Bern die Clubs und Bars schloss, spielte ich eine letzte Show. Eigentlich wäre man besser zuhause geblieben, weil die Infektionszahlen in diesen Tagen explodierten, aber ich fand, wenn ich noch einmal arbeiten darf, dann tue ich das auch und mache das Beste draus. Der Club war bestuhlt, alle trugen Masken und trinken durfte man nur sitzend. Aber auf der Bühne fühlte sich alles wie immer an, als gäbe es das Virus nicht, als wäre es normal, dass das Publikum maskiert war und auf unbequemen Holzstühlen euphorisch zum Takt wippte.
Bereits am nächsten Nachmittag wurde die Schliessung aller Clubs, Bars und anderer Kulturinstitutionen verordnet. Die Verordnung war sehr spezifisch und es wurde schnell klar, dass was euphemistisch Lockdown Light genannt wurde, eigentlich ein Kulturlockdown war. Alle Läden sollten weiterhin geöffnet sein, ebenso die Gastronomie, wenn auch mit Einschränkungen. Immerhin kein Tanzverbot, wie es verschiedene Ostschweizer Kantone ausgerufen hatten, diese veraltete protestantische lust- und kulturfeindliche Praxis. Weil der Kulturlockdown erst ab Mitternacht gelten sollte, reichte es noch für eine letzte verantwortungslose Dosis Kultur: Vernissage, Konzert, Lesung, Barbetrieb. Um Mitternacht stand man dann verloren, mit zerknitterten Gesichtern und Masken auf der Strasse im Nieselregen. Und weil man irgendwie sentimental war und auch etwas trotzig, da einem schon wieder die Arbeit verboten wurde, ging man weiter, irgendwo in eine kleine Galerie in der Altstadt, wo man an ein Fenster klopfen musste, um hereingelassen zu werden und wo es Brandy-Sour gab. Es fühlte sich an, als wäre es tiefste Prohibition und es fühlte sich falsch und gleichzeitig gut an.
Unter Dystopien habe ich mir immer so Black-Mirror-Szenerien vorgestellt. Aber eigentlich ist das, was gerade abgeht, eine der furchteinflössendsten Dystopien, die ich mir vorstellen kann. Und zwar nicht das Virus an sich, sondern die gesellschaftlichen Implikationen einer Pandemie im Spätkapitalismus. Die Abwälzung der Krise auf das untere Drittel, während die Reichsten nach wie vor profitieren. Berufsverbote für Kulturschaffende, die sich mit grösster Anstrengung staatliche Unterstützung erkämpfen müssen, während sich ihre Zukunftsperspektiven in Luft auflösen und gleichzeitig ohne Zögern ein paar Milliarden für ein Flugunternehmen hingeblättert werden. Einschränkungen aller Aspekte des Lebens ausser Lohnarbeit und Konsum materieller, oft kaum existenzieller Güter. Dass sich samstags in der Innenstadt die Menschen dicht an dicht mit Einkäufen die Zeit vertreiben, während die gesamte Kultur gecancelt ist.
Eine Gesellschaft die nur Augen für das Kapital hat, die die Kultur vergisst, ist einfach nur dystopisch. So vielversprechend Lockdown Light auch klingen mag, es ist nur ein Rebrand, der über kapitalistisch gesetzte Prioritäten hinwegtäuschen soll. Mit jedem Rebrand wird es nur beschissener, werden unsere Leben noch etwas weiter kapitalisiert.