von Nadine Wenzlick

Brian, die Grundidee für «Never Let Me Go» entstand schon während eurer Jubiläumstour vor fünf Jahren. Was genau war bei diesem Album dein Ziel?

Stefan (Olsdall, Drummer, Anm. d. Red.) und ich sind nicht die Typen, die gerne zurückblicken. Bei unserer Jubiläumstour ging es darum, dem Publikum Freude zu bereiten, indem wir nach vielen Jahren wieder altes Material spielten. Das erste Jahr lang hat das auch funktioniert und wir genossen es, all diese Liebe zurückzubekommen – aber dann ging uns der Antrieb aus und wir hatten noch all diese Daten vor uns. Es fühlte sich alles wahnsinnig kommerziell an. An dem Punkt fasste ich den Entschluss, dass wir als Reaktion darauf als nächstes etwas machen würden, dass tiefer geht. Etwas, das mehr Dringlichkeit hat, das brutaler ist und Themen angeht, die ich für wichtig halte, statt einfach nur die Vergangenheit zu feiern. Darin bin ich nämlich nicht besonders gut.

Du hast auch deine Arbeitsweise geändert: Statt direkt Songs zu schreiben, hast du als erstes das Cover-Motiv ausgesucht.

Ich habe ein grosses Problem mit Wiederholung und hatte Sorge, dass mir langweilig wird, wenn wir auf die gleiche Weise arbeiten wie immer – also beschloss ich, alles auf den Kopf zu stellen. Mein verstorbener Freund und Mentor David Bowie sagte immer: Fühlst du dich sicher mit dem, was du gerade tust? Wenn ja, dann musst du etwas ändern! Das Albumcover ist normalerweise das letzte, um das man sich kümmert. Aber als ich 2016 ein Foto vom Glass Beach in Nordkalifornien sah, sprach mich das so sehr an, dass ich Stefan fragte, ob das nicht ein gutes Cover wäre. Als nächstes zeigte ich ihm eine Liste an möglichen Songtiteln. Erst danach begannen wir die Songs zu schreiben – und zwar nur wir zwei, so wie ganz am Anfang unserer Karriere, als wir in unseren Londoner Wohnzimmern an Demos gebastelt haben.

Wie hat sich das musikalisch ausgewirkt?

In den Moment, als wir erkannten, dass sich damit ein Kreis schliesst, wurde uns klar, dass wir alles tun konnten, was wir wollten! Wir verbrachten also viel Zeit damit, weissen Kaninchen zu folgen und in Kaninchenlöcher abzutauchen, wie man so schön sagt. Wir entdeckten viele neue Sounds. Wo kommt dieser Stecker rein? Aha, dann lass ihn uns woanders reinstecken und gucken, was passiert. Es ging darum, die Komfortzone zu verlassen, um dieser Band wieder frisches Leben einzuhauchen.

Das scheint geklappt zu haben, denn nachdem sich das letzte Placebo-Album «Loud Like Love» ausschliesslich um die Liebe drehte, klingt ihr dieses Mal ganz schön wütend.

Das bin ich auch! Ich glaube nicht, dass ich je zuvor so wütend war und das spiegelt sich auf dem Album und in den Texten natürlich wider.

Was macht dich so wütend?

Wow, wo soll ich anfangen? Man kann es wohl am besten darunter zusammenfassen, was ich als Ungerechtigkeit empfinde. Wenn ich mich umschaue, sehe ich überall Ungerechtigkeit. Ich sehe, wie arme, benachteiligte und eingeborene Menschen nach wie vor ausgenutzt werden – vor allem von reichen, weissen Männern. Und mein Heimatland habe ich im Februar letzten Jahres verlassen, weil London sich zunehmend in einen Polizeistaat verwandelt. Ich fühlte mich dort einfach nicht mehr wohl.

Wenn du in dem Song «Chemtrails» die Zeile „I’m gonna find another island and get the hell out of here“ singst, ist das ist also wörtlich gemeint?

Absolut! Ich hatte keine Wahl. Die Politiker, die das Land regieren, sind eine internationale Lachnummer. Sie sind Lügner, Narzissten und Soziopathen. Die ganze Brexit-Kampagne basiert auf einem grossen Haufen Lügen und zudem haben sie während der Pandemie absolut gar nichts für Künstler getan. Ende 2020 war ich psychisch total am Ende wegen diesen Zwillings-Dämonen – die Corona-Pandemie und das bevorstehende Verderben des Brexits. Ich wachte jeden Morgen voller Rage auf. Das ist nicht gut für die Gesundheit. Das einzige, das ich tun konnte, war nach Europa zu ziehen.

In dem Song «Surrounded By Spies» derweil geht es um den Verlust der Privatsphäre. Inwiefern fühlst du dich überwacht?

CCTV ist überall in London! Du kannst von einem Ende der Stadt zum anderen laufen und komplett von Kameras verfolgt werden. Ich hatte das Gefühl, als würde ich in einem Roman von James Graham Ballard leben, in einem dystopischen Staat. Dazu kommen die sozialen Medien. Die Leute glauben, dass sie uns verbinden, dass diese riesigen Firmen uneigennützige Gönner sind, die die Welt zu einem besseren Ort machen. Fuck nein! Ihr Ziel ist es, für einige, wenige Menschen enorme Mengen an Reichtum zu generieren.

Ein weiteres Thema auf dem Album ist die Umweltzerstörung: In «Try Better Next Time» singst du von einem Planeten, der zu heiss ist, um darauf zu leben und von Menschen, denen Flossen wachsen, so dass sie zurück ins Meer gehen können.

Ich habe Klima-Depression! Es fällt mir schwer, optimistisch zu bleiben – auch wenn es natürlich wichtig ist, Optimismus und Hoffnung zu wahren und daran zu glauben, dass wir es schaffen können. Aber ich frage mich auch, ob wir es überhaupt verdienen. Wir sind nur eine von vielen Millionen Spezies auf diesem Planeten, aber wir sind die einzigen, die herumrennen und die Erde zerstören, um etwas zu generieren, das gar nicht existiert, und zwar Geld. Geld ist ja nicht mal real, es sind nur Zahlen auf einem Bildschirm. Vielleicht wären all die Lebewesen auf diesem Planeten besser dran, wenn wir nicht mehr hier wären. Man sieht das ja an Tschernobyl, dort kehren die Natur und die Tiere zurück. Also vielleicht ist es an der Zeit für uns zu gehen?

Siehst du wirklich so schwarz für die Menschheit?

Zu meinem Sohn sage ich immer: «Cody, du könntest das Ende der Menschheit aus der ersten Reihe beobachten und ich bin ein bisschen neidisch» (lacht). Ich glaube nicht, dass es in meiner Lebenszeit passiert, aber ich glaube die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es in seiner passiert. Zumindest, wenn wir so weitermachen wie bisher. Wir als Individuen können so nachhaltig leben, wie wir wollen – solange Unilever, Coco Cola und McDonalds sich nicht drastisch ändern, wie soll irgendetwas besser werden? Dazu kommen all diese Tech-Milliardäre, die Proto-Konquistadoren im Weltall werden wollen – um dort so weiter zu machen wie hier? Zumal jeder, der mal davon gelesen hat, wie Angestellte von Amazon behandelt werden, sich doch Sorgen machen müsste, dass der Typ, der Amazon leitet, eine Zivilisation auf einem anderen Planeten aufbauen will… Wozu? Um noch mehr Lohnsklaven mit Stockholm-Syndrom zu schaffen?

Wow, wir spüren deine Wut!

Ihr versteht mich, oder? (Lacht) Wisst ihr, ich bin nur ein Musiker. Ich kommentiere bloss, was ich beobachte, und finde durch meine Texte Trost und eine Form von Selbsttherapie. Es wird sicher Leute geben, die mich dafür verurteilen, dass ich eine Meinung zum Klimawandel habe. Aber ich habe diese Themen nicht von einer Liste ausgesucht. Das sind nun mal die Dinge, die mir am Herzen liegen. Warum mich das heute mehr interessiert? Weil ich nicht mehr annähernd so anästhesiert bin wie vor zehn oder gar 20 Jahren. Ich habe dadurch nicht nur einen klareren Blick, sondern auch mehr Mitgefühl. Mein Draufgängertum wurde durch Mitgefühl ersetzt – auch vor dem Hintergrund, dass ich die Arroganz hatte, mich zu vermehren und einen Menschen hier zurücklasse, der sich mit all dem Scheiss herumschlagen muss! Das bricht mir echt das Herz. Ich bin wütend, aber ich bin auch traurig, dass wir zugelassen haben, dass all das passiert.

Placebo spielen live am 29.10. in The Hall (Zürich), hier geht’s zum Vorverkauf.