von Nadine Wenzlick
Auf einmal hatte Sam Fender keinen „Stoff“ mehr. Auf seinem Debütalbum „Hypersonic Missiles“ hatte der 27-jährige Brite vor allem über die Menschen um sich herum geschrieben, über die Arbeiterklasse im Norden Englands und ihre ganz alltäglichen Kämpfe und Sorgen. Seine Songs kamen an: Er schaffte es an die Spitze der britischen Charts, wurde bei den BRIT Awards mit dem Critics‘ Choice Award ausgezeichnet und spielte eine ausverkaufte Arena-Tour. Doch dann kam Corona und bremste Fender eiskalt aus. Nach dem Abbruch seiner Tour Anfang letzten Jahres sass er Zuhause und wusste nicht so recht, worüber er singen sollte. „Plötzlich waren da keine Pub-Erlebnisse und grossmäuligen Drogendealer mehr, über die ich hätte schreiben können“, so Fender. „Deswegen ist mein zweites Album sehr introspektiv und persönlich geworden.“
„Seventeen Going Under“ heisst es und Fender liess dafür sein Leben und seine Geschichte Revue passieren. „Als ich anfing zu schreiben, hatte ich gerade eine Therapie begonnen – wie man das so macht, wenn man einen Plattenvertrag unterschreibt und plötzlich merkt, dass man verrückt ist“, lacht er. „Dadurch fing ich an, viele Sachen aus meiner Kindheit zu verarbeiten. Am Ende des Tages ist ‚Seventeen Going Under‘ ein Album über Selbstachtung und das Erwachsenwerden. Es feiert das Leben nach einer harten Zeit, es feiert das Überleben.“
In Songs wie dem Titelstück oder „Gettin‘ Started“ zum Beispiel blickt Fender zurück auf seine Reise – von einer Sozialwohnung in North Shields zu einem der hoffnungsvollsten britischen Newcomer. „Get You Down“, das wie eine Mischung aus E Street Band und New Order klingt, handelt laut Fender davon „wie sich Unsicherheit und mangelndes Selbstwertgefühl auf Beziehungen im Erwachsenenalter auswirken – und wie ich deshalb ein ziemlich beschissener Freund war. Der Song ist sehr selbstkritisch, aber wie immer habe ich ein fröhliches Saxophon drauf gepackt.“ Und „Spit Of You“ schrieb Fender für seinen Vater. Es gab eine vier oder fünf Jahre lange Zeit in unserem Leben, in der wir uns nicht besonders verstanden und kaum sahen“, so Fender. „Als meine Karriere dann losging, habe ich mehr Zeit mit ihm verbracht. Eines Tages kochte alles über und wir schlugen uns fast die Köpfe ein, aber jetzt sind wir wieder beste Freunde. Der Song ist eine Liebeserklärung an ihn, aber es geht auch darum, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt. Ich habe viele seiner guten Züge geerbt, zum Beispiel die Liebe zur Musik, aber eben auch schlecht Züge wie dass man Zuhause eine Wand einschlägt, wenn man wütend wird, und sie am nächsten Tag reparieren muss…“
Musikalisch präsentiert Sam Fender sich auf „Seventeen Going Under“ übrigens abwechslungsreicher und vielseitiger als auf seinem Debüt. Grosse, mit Saxophon verzierte Hymnen treffen auf die Piano-Ballade „Last To Make It Home“, mal gibt’s ein paar Handclaps, dann ein verspieltes Keyboard. Das opulente „Long Way Off“ derweil, in dem Fender sein Hadern mit der politischen Situation in Grossbritannien thematisiert, kommt mit Streichern, Bläsern und Synthies daher. „Am Anfang hatte ich nur eine Gitarrenmelodie und den Gesang, aber im Laufe der Zeit wurde der Song immer grösser. Nun besteht er aus 164 Spuren, inklusive Orchester, Bläsern, zig unterschiedlichen Synthesizern, Gitarren-Parts und Backing-Vocals“, so Fender. Man kann sich schon vorstellen, wie Fender damit kommenden Sommer, wenn sowas hoffentlich wieder möglich ist, auf Europas Festivalbühnen steht und zehntausende im Chor mitsingen.