von Nadine Wenzlick
Als Tocotronic 2018 ihr zwölftes Album «Die Unendlichkeit» veröffentlichten, war die Überraschung gross: Rund 25 Jahre stand die Indie-Rock-Band für intellektuellen Diskurspop und Texte, über die man stundenlang grübeln konnte – und nun auf einmal verarbeitete Sänger Dirk von Lowtzow in den autobiografischen Songs sein Leben, sang von seiner Kindheit und Jugend im Schwarzwald, den ersten Jahren in Hamburg sowie Erfahrungen mit Liebe und Verlust. «Nie wieder Krieg», das neue Album der Band, geht nun noch einen Schritt weiter und blickt ganz tief hinein in von Lowtzows Seele. Fast so, als hätte «Die Unendlichkeit» eine Tür aufgestossen. «Du meinst nach dem Motto ‚ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert?‘», lacht von Lowtzow. «Ich glaube, der unbewusste Knackpunkt war das Stück ‚Ich öffne mich‘ auf unserem roten Album von 2015, das hat irgendwas ins Rollen gebracht. Davor ging es in unseren Texten eher um ein aus vielen unterschiedlichen Stimmen zusammen collagiertes Ich. Auf ‚Wie wir leben wollen‘ haben wir dieses Prinzip 2013 so weit getrieben, dass wir danach dachten vielleicht muss man jetzt die entgegengesetzte Technik anwenden und so schlicht und nahbar wie möglich sein. Und ich finde auch: Wenn man heute im Streaming-Zeitalter ein Album macht und den Hörerinnen und Hörern diese Aufmerksamkeit abverlangt, dann muss man etwas von sich freigeben. Das muss eine Bedeutung und Tiefe haben.»
Auf «Nie wieder Krieg» geht es nun also um existenzielle Themen wie Einsamkeit, Verletzlichkeit und Angst, aber auch um Hoffnung und Liebe. Das Album folgt dabei einer klaren Dramaturgie: Es beginnt mit einer inneren Zerrissenheit, von Lowtzow singt von Dämonen, Monstern und Isolation. «Wenn man mich trifft, würde man das vielleicht nicht annehmen, aber es gibt offensichtlich in mir starke Ängste, eine grosse Unrast und das Gefühl, getrieben zu sein von der eigenen Hand, so wie es in ‚Komm mit in meine freie Welt‘ heisst», sagt er. «In meinen Songs wird das nach oben gespült und natürlich auch verstärkt.» Und so beschreibt von Lowtzow in «Crash» den grossen Zusammenbruch, bevor er in «Leicht lädiert» von Panikattacken singt. «Meistens kommen die nachts oder kurz vor dem Einschlafen. Schweissausbrüche, Herzrasen. Das ist nicht sehr angenehm. Der Vorteil ist, dass es im Bett stattfindet, man ist also relativ sicher», sagt er. «Es gibt in ein schönes Wort von dem russischen Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski: Nadryw. Es beschreibt diese totale innere Zerrissenheit, Nervosität und Unrast, dieses hysterisch-friebrige, das Dostojewskis Roman ‚Die Dämonen‘ ausmacht. Ich würde sagen das ist eine Kernstimmung unseres Albums.»
Und trotzdem: am Ende schimmern «Hoffnung» und die «Liebe». Ein Happy End? «Ich persönlich bin ein Freund von Happy Ends, das muss ich zugeben», so von Lowtzow. «Allerdings ist die in dem letzten Song beschriebene Liebe nicht ganz ungefährlich. Wenn man genau hinhört, merkt man, dass sie eine sehr manipulative Kraft ist: Sie dreht dich um, schaltet dich stumm und setzt dich auf null. Das sind Vorgänge, wie man sie sonst nur bei Gehirnwäschen kennt. Vielleicht lauert da schon wieder der nächste Abgrund, die nächste Schlucht…»
Aufgenommen haben Tocotronic «Nie wieder Krieg» übrigens komplett live – so wie einst in den Neunzigern. «Damals meinte unser Produzent, anders könne er uns gar nicht auf Platte kriegen, als wenn er uns einfach live spielen lässt, weil das so Kraut und Rüben war», lacht von Lowtzow. «Über die Jahre haben wir uns natürlich immer weiter verfeinert. Heute haben Tocotronic zwei Seiten: Wir haben Spass an diesem rohen, Garagenrock-mässigen Zusammenspiel, aber auch an arrangierten Songs wie jetzt mit ‚Ein Monster kam am Morgen‘ oder ‚Hoffnung‘, wo Streicher und sogar Harfen dazukommen.» Genau diese Gegensätzlichkeit verleiht «Nie wieder Krieg» seinen Reiz.